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15. Februar 2012
Wer kauzig ist hat Asperger. «Eine Diagnose für fast Normale» schlagzeilt der Tagesanzeiger auf seiner Webseite vom 15. Februar 2012. Im Lead wird dann auch gleich gefragt, ob diese milde Autismusform nur ein Trend in der Psychiatrie ist oder ob die Betroffenen tatsächlich krank sind. (http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-und-psychologie/Eine-Diagnose-fuer-fast-Normale/story/18124496)
Tatsächlich ist in der jüngsten Zeit Autismus ein Hype geworden in der Beschäftigung mit Behinderung und mit Menschen mit Behinderung. ...
Es ist beinahe sexy, sich damit zu befassen. Insbesondere jene Ausprägung aus dem Autismus-Sprektum-Syndrum, die mit dem Namen des Arztes Hans Asperger (1906 - 1980) verbunden ist, erfreut sich grösster Beliebtheit. Denn hier ist «noch nicht alles» verloren. Man kann noch etwas tun und seit Rainman will auch gern jeder was tun. Hans Asperger hat ein Symptom, das eine russische Pionierin der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Grunja Jefimowa Sucharewa (1891 - 1981) als schizoide Psychopathie bezeichnet hat, in seinen eigenen Arbeiten als autistische Psychopathie bezeichnet. Jeder der die Fernsehserie «The Big Bang Theory» anschaut, weiss, was ein nerd ist, so ein schrulliger eigenbrötlerischer und irgendwie partiell genialer Typ. Man könnt sich nun fragen, ob jemand, der mehrere Stunden am Tag Bälle gegen eine Wand hämmert auch autistische Züge zeigt, oder einfach ein begabtes Tennistalent ist und jemand, der wie blöd acht Stunden im Tag auf einer Geige rumstreicht? Oder gar jemand, der angestrengt seinem Job nachkommt, der auch spätabends über sein Blackberry noch seinen Börsentransaktionen nachgeht?
Ist nicht jeder, der verbissen sich nur auf etwas fokussiert nicht auch ein wenig autistisch?
Man merkt bald, wie dümmlich eine solche Argumentation in Wirklichkeit ist. Die Popularisierung des Begriffs und seine Verbeliebigung in die Alltäglichkeit hinein, wird den aktuellen Schwierigkeiten, welchen die mit dieser Diagonose beschriebenen Menschen in der Wirklichkeit unseres Alltags nicht gerecht. 

Aber der Asperger-Autismus ist gleichzeitig auch eine psychische Erkrankung, die wunderbar in den Zeitgeist des Neoliberalismus hineinpasst, sowohl von ihrer Symptomatik her als auch von der Zeit ihrer wissenschaftlichen Anerkennung her. 1991 übernimmt die WHO das Asperger-Syndrom in sein ICD-Klassifikationssystem und die American Psychiatric Association tut das Gleiche 1994. Da die Symptombeschreibung bis weit in das hinein reicht, was im alltäglichen Verständnis als «Normalität» verstanden wird, also dorthin, wo jemand einfach scheu oder eigenbrötlerisch wirkt, ist auch der Übergang fliessend. Und überall dort, wo die Anpassung nicht so gut klappt, erlaubt es eine vorzügliche Erklärung. Irgendwo im Hirn tickt irgendetwas nicht so ganz und schon ist die mangelnde Anpassung gut wegerklärt es sei denn es handle sich um Kinder mit dem so genannten Migrationshintergrund, das wäre dann ein anderes Syndrom.
Menschen, die diese Symptome zeigen, zeigen ein neoliberales Sozialverhalten, sie interssieren sich nicht für andere, sie zeigen eine ausgeprägtes Interesses für Technik und Bürokratie, kennen Fahrpläne auswendig und brillieren beim Kopfrechnen. Da diese Menschen immer sagen, was sie gerade denken, lügen sie auch nie, da der Umgang mit Ambivalenz gerade nicht ihre Stärke ausmacht, fungieren sie oft auch als Spassbremsen und so weiter ...

«Unweit des Hauptbahnhofs Zürich, im Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Uniklinik Zürich an der Militärstrasse 8, zweiter Stock, hat Psychiatrie-Oberärztin Helene Haker ihr Büro und ihren Therapieraum. ...  Vor allem bei Erwachsenen ist die Abgrenzung zu Normalen schwierig», erklärt Haker.  Viele seien sehr intelligent und hätten sich über die Jahre Strategien angeeignet, ihre Defizite zu kompensieren. Haker hat vor zwei Jahren zusammen mit der Psychologin  Florence Hagenmuller an der Universität Zürich eine der wenigen Asperger- Sprechstunden für Erwachsene in der Schweiz gestartet. Die Nachfrage ist gross, bereits  sind sie ausgebucht. In drei zweistündigen Sitzungen klären die beiden Fachleute mithilfe  von Gesprächen, Fragebogen und Testaufgaben die Patienten ab. ««Die Besonderheiten der Asperger-Betroffenen sind zwar sehr variabel, die zugrunde liegenden Ursachen sind bei allen jedoch gleich», sagt Haker. Hinter allem stünde eine beeinträchtigte Wahrnehmung, vor allem von sozialen Signalen. Diese Beeinträchtigung sei bis zu 90 Prozent angeboren: «Autismus-Erkrankungen haben unter den psychischen Erkrankungen den höchsten genetischen Anteil», sagt Haker.»

Schon am 4. Januar 2012 hatte der Tagesanzeiger auf seiner Webseite von erfolgreichen Ausbildungsangeboten für Menschen mit Asperger-Autismus geschrieben, die sich in geschützten Werkstätten unterfordert und auf dem so genannt «freien» Arbeitsmarkt überfordert geführt haben:
«Für Jugendliche mit Asperger-Autismus ist die Lehrstellensuche eine zermürbende Angelegenheit. In einer geschützten Werkstatt fühlen sie sich unterfordert, in einer regulären Berufsausbildung überfordert. Von diesem Dilemma erfuhr vor drei Jahren der Herrliberger Wirtschaftsinformatiker und IT-Unternehmer Siegfried Wirtner. Die Mutter eines Sohnes mit Asperger-Syndrom hatte ihn gebeten, ihrem Jungen eine Lehrstelle im Informatikbereich zu vermitteln. «Ich stellte schnell fest, dass es im Kanton Zürich kein entsprechendes Angebot gab», sagt Wirtner. Er beschloss, die Lücke selber zu füllen.» (Tagesanzeiger http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/Autismus-als-Erfolgsgarant/story/30107989)
Und schliesslich sind wir doch mit der Marktwirtschaft ganz versöhnt, steht doch am Ende dieses Artikels:
«Die Asperger-Diagnose gibt es erst seit 1996. Dass aus der Behinderung ein Wettbewerbsvorteil werden kann, zeigt eine Liste bekannter Persönlichkeiten, die von Experten als Asperger-Personen eingestuft werden: Microsoft-Gründer Bill Gates, der US-Regisseur Steven Spielberg oder der Physiker Albert Einstein»
Alfred Hitchcock, Amadeus Mozart runden den illustren Kreis der mit dem Asperger-Autismus-Syndrom ferndiagnostizierten Menschen ab.

Freilich, ein Mensch dessen einseitige Genialität sich nicht so kulturell nutzenstiftend äussert, wie diejenigen Eigenheiten der oben erwähnten Berühmtheiten, der es auch nicht schafft, sich für Informatik so zu interessieren, dass er eine Lehrstelle auf diesem Gebiet erhält, dem bleibt die Sackgasse der Behindertenwerkstatt, die ihn weitgehend behindern wird. Für diesen Menschen bleibt bei aller Sympathie für ihr Symptom die Privatisierung dieser neoliberal beschriebenen Krankheit.
Menschen sind immer krank in Beziehung zu dem, was andere Menschen als gesund erachten. Das banalisiert nicht die Symptome, aber es lässt die Einseitigkeit ihrer Beschreibung, etwa dass die Symptomatik so stark genetisch bedingt ist, anders verstehen, auch hier gilt, dass ein Verhalten immer aus dem Zusammenspiel von Anlage und Umwelt gilt. Ohne Klavier wäre Mozart kein genialer Klavierspieler gewesen.