Wir verwenden Cookies, um unsere Website fortlaufend zu verbessern und die Zugriffe statistisch auszuwerten. Mit der Nutzung unserer Webseiten erklären Sie sich damit einverstanden. Näheres dazu und wie Sie die Verwendung von Cookies einschränken oder unterbinden können, erfahren Sie in unseren Datenschutzhinweisen.

Dieses Sommersemester gebe ich am ISP an der Universität Zürich den Methodenkurs für die Studierenden des Grundstudiums. Es geht darum, eine Einführung in verschiedene Strategien des sozialwisssenschaftlichen Forschens auf dem Feld von Behinderung anzubieten.

Wir behandeln Anselm L.  Strauss »Grundlagen qualitativer Sozialforschung«.

Im Anhang dieses Buches findet sich der Hinweis auf einen interessanten Aufsatzvom  Fred Davis (1961) »Deviance Disavowel: The Management of Strained Interaction by the Visibly Hancicapped« (In: Sociel Forces 9, S. 120 - 132).

Dieser  Aufsatz verweist auf die Schwierigkeit der Interaktion zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen unter der Voraussetzung, dass die Behinderung  wahrnehmbar oder nicht wahrnehmbar ist. Das Problem bei denjenigen, die  behindert sind, ist das gleiche, wie bei denjenigen, die nicht behindert sind. Beide Teile versuchen im  Interaktionsprozess die Behinderung herunter zu spielen und zu bagatellisieren. Die Kommunikation gelingt, wie scheinbar jede gelingende Kommunikation, über die Konstruktion dessen, was man eine geteilte Täuschung über den jeweils anderen Kommunikationspartner  nennen könnte.

Für mich stellt sich das Problem sehr konkret in meinem Büro an der Universität.

Die Sekretärin des Institutes hat beschlossen, daß die Putzfrau die Zeitungen im Altpapier nicht bündeln muß. Das muß jeder selber tun. Genau das kann ich aber sehr schlecht und nur unter großen Schmerzen. Mir sieht man eine Behinderung nicht an.

Ich gehöre zu jener Kategorie von Menschen, denen man Scheininvalidität vorwerfen kann, wenn Sie gewisse Dinge nicht tun wollen, zum Beispiel Tische und Stühle verschieden.

Ich habe am Institut nur mit ganz wenigen darüber gesprochen, daß mein Rücken etwas schwieriger ist, als jener anderer Leute, uns dass es sich um etwas mehr handelt, als dass er mir nur Schmerz bereitetend. Einige wissen, dass ich keine schweren Lasten heben kann, dass ich keine Tische verschiebenen kann und so weiter, andere wissen es nicht.

Niemand weiß, daß ich Zeitungen nur unter großen Schmerzen bündeln kann.

Ich schäme mich, dies mitzuteilen,  denn unzweifelhaft kann ich dieses tun, wenngleich es eben mit Schmerzen verunden ist.

Wie viel Schmerzen muss ein Mensch aushalten, bis er sagen darf, dass es genug ist?

Was also soll ich tun?

Bisher habe ich nichts getan, und die Beige von Altpapier in meinem Büro wächst an

Das ist ein Ärger.

Der Ärger besteht für mich darin, das sich nicht weiß, wie ich mit dieser Situation so umgehen kann, daß ich mich nicht schäme dafür, dass ich so bin wie ich bin.

Ich weiß zwar in meinen Kopf oder sonstwo, daß dies etwas damit zu tun hat, daß ich meine eigene Behinderung noch nicht wirklich akzeptiert und integriert habe. Doch solches Wissen tröstet mich nicht über das vorweg genommene Schamgefühl hinweg, das ich präventiv empfinde, wenn ich nur schon daran denke, mit jemandem aus dem Institut über diese Situation zu sprechen.

Genau das ist für mich das wirklich Schlimme an meiner Situatioin, dass  sie mir keine Freiheitsgrade läßt, ihr auszuweichen.

Wie immer ich die Situation auch betrachtet und hin und her wende, ich befürchte, das man mich auslachen wird, genauso die an diesem Institut immer wieder irgendwie und irgendwo gelacht worden, wenn es darum gegangenist, konkrete Behinderungen abzubauen.

Ich kenne diese Situation, und ich bin selbst einer, der Witze reisst, zumal wenn die Schmerzen groß sind. Und ich bin gleichwohl verletzt, wenn ich den Eindruck habe, es werde über meine Situation gelacht. Dann werde ich wütend und traurig zugleich und fühle mich ausgeliefert und hilflos. Denn über mich darf offenbar nur ich selbst lachen – welche Überheblichkeit steigt da in mir auf!

Ich weiß, das  ich im Vergleich zu anderen Menschen nur relativ geringfügig eingeschränkt bin.

Ich kann nachwievor denken, bin weitgehend mobil und gut integriert, in das, was man »Gesellschaft« nennt. Ich kann auch arbeiten und solange mein Pensum die 50 % nicht ganz deutlich übersteigt und ich über eine hohe Zeitautonomie verfüge, wie nur eine Universität sie bietet, komme ich auch ganz gut zurecht in der Rolle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters zu 50 %, der daneben noch ein wenig Institutionsberatung betreibt.

Ich beklage mich nicht über meine Situation. Ich bin glücklich und zufrieden, aber als Ärger bleibt zurück, daß mein Körper mir Einschränkungen auferlegt, die sich mit meinem Selbstverständnis von mir selbst nur sehr schlecht vertragen.

Muß ich nun also meine ganze Geschichte erzählen?

Die Geschichte meines körperlichen Zusammenbruch vor vier Jahren, denjenigen, der sieben Jahre zuvor die Lähmung meines rechten Fußes zur Folge hatte?

Die lange und mühsame Geschichte der  Abklärungen, es Aufsuchens eines Arztes und eines nächsten usw., der vielfältigen und widersprüchlichen Antworten und Therapievorschläge, welche diese Spezialisten mir allesamt gaben; der Vorschläge, dies und das zu operieren, ohne mir je sagen zu können, oder zu wollen, mit welche Risiken einen der eine oder der andere Eingriff verbunden war, mir aber immer versichernd, das auch dann, wenn ich heute nicht gegen eine Operation entschiede, ich sowieso in drei bis vier Jahren wieder bei Ihnen wäre, um mich dann ganz sicher operieren zu lassen.

Meine Beweglichkeit ist eingeschränkt, ich trainiere ein bis zweimal pro Woche in Kraftraum nach einem speziellen Programm, das mir hilft, meine Muskeln zu einem festen  Korsett zu formen, das meine Wirbelsäule stabilisiert.

Noch ist die Schädigung begrenzt, noch funktioniert das meiste.

Fast zwei Jahre lang war ich arbeitsunfähig, zu 75 Prozent während langer anderthalb Jahre, zu fünfzig Prozent ein weiteres halbes Jahr, seit da arbeite ich wieder und bin noch zu 25 Prozent invalid, das hat die Abklärung der Invalidenversicherung ergeben.

Die Abklärungen der Invalidenversicherung waren sehr genau und unangenehm. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis ich den Bericht erhielt. Und irgendwann später wurde mir auch die Rente ausbezahlt, die ich zu gute hatte für jene Zeit nach der meine Taggeldversicherung ihre Zahlungen nach 12 Monaten eingestellt hatte.

Hätte ich das Geld damals dringend gebraucht, so wäre es mir sehr schlecht gegangen und ich hätte zurFürsorge gehen müssen.

Dieser Gang ist mir glücklicherweise erspart geblieben, wenigstens vorderhand, denn ich fand eine Stelle zu fünfzig Prozent als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Zürich am Institut für Sonderpädagogik, wo ich zur Zeit noch immer arbeite.

Nein, diese Geschichte muss ich so nicht erzählen.

Aber ich habe mich nie getraut, von einer Ausnahme abgesehen, an diesem Institut jemandem von meiner Erfahrung mit Behinderung und Invalidität zu berichten.

Nicht einmal  hier ist Behinderung prestigeträchtig, der Umgang damit ist genauso ohnmächtig und hilflos wie überall sonst in unserer Gesellschaft.

Und so  stapelt sich das Altpapier in meinem Büro ohne das sich dafür eine Lösung  fände.

Und dann habe ich eine Idee. Ich lasse die Zeitungen ganz langsam, quasi Blatt für Blatt über den Papierkorb verschwinden und hüte mich in Zukunft davor Altpapier ins Büro zu tragen.

Dieses Problem ist gelöst, aber noch immer tut der Rücken weh.