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Und so wird heute Morgen geschlagzeilt:

«Was läuft hier schief? IV-Renten höher als der Lohn! Die Beispiele. Die Forderungen. Seiten 4 / 5«.

Überblättern wir also die SVP-Wahlschlappe im Kanton Zürich, wo nach dem Abtauchen des so genannten »Sozialversicherungsexperten« Toni Bertolzzi für den zweiten Wahlgang  der Regierungsratswahlen im Kanton Zürich, dem Klotener Stadtpräsidenten und Flughafenlobbisten Bruno Heinzelmann den Gang auf das Schaffot der Wahlniederlagen (Regierungsratswahlen sollen bekanntlich ja Persönlichkeitswahlen sein) überlassen worden, der dann auch erwartungsgemäss gegen den Winterthurer CVP-Stadtrat Hans Hollenstein verlor.

Irgendwo habe ich gelesen, dass jeder Weg nach oben auch mit Niederlagen gepflastert sei, je nun.

Auf Seite 4 / 5 lautet die auf der Frontseit angekündigte Schlagzeile, garniert mit Überzeilen:

»Tabu IV-Rente. FDP Nationalrat prangert unsere Sozialversicherungen an:

Mehr Geld als Büezer. Wie schaffen das unsere IV-Renter?«

Hier wird die Obszönität des Argumentes schon im Sprachgebrauch deutlich.

»Büezer«, so heisst das im Zürcher Dialekt – der »Blick« hat seine Redaktion in Zürich – ein Arbeiter.

Ein Arbeiter ist jemand, der so wenig eigenes zum Leben hat, dass er sein Arbeitsvermögen gegen Lohn verkaufen muss. Er vermietet Lebenszeit gegen Geld.

Ein »Invalider« ist ein Mensch, dessen Arbeitsvermögen durch bestimmte Umstände so wenig auf dem Markt der Arbeitskraft wert ist, dass er gar nichts mehr zum Verkaufen hat, also mietet niemand seine Lebenszeit, deshalb ist er »arbeitsunfähig«.

Die Invalidenversicherung versichert nun aber genau das Ausmass dieser Unfähigkeit Arbeit zu leisten, nicht aber einen bestimmten auf dem Arbeitsmarkt erzielten Lohn. Die Höhe der Rente wird in einem relativ komplizierten Verfahren errechnet aus der Höhe der entgangenen Einkünfte unter der Bedingung, dass die Arbeitsunfähigkeit nicht eintritt.

Im Lead des Artikels heisst es:

»REINACH (AG). FDP-Natioanlrat Phillip Müller (52) greift die IV und andere Sozialversicherungen an: »Rentenbezüger haben in vielen Fällen ein höhere Einkommen als Leute, die arbeiten. Das ist ungerecht«.

Der Artikel beginnt folgendermassen:

»Zum Beweis präsentiert Müller einer Reihe konkretes Beispiel. Erhalten hat er sie vom Geschäftsleiter einer Branchenpensionskasse mit 4500 Aktiven und 600 Pensionierten. Der wollte nicht selber an die Öffentlichkeit treten - aus Angst angefeindet zu werden. Es handelt sich um eine extrem kleine Kasse, wenn diese auch nur ein wenig an der Börse spekuliert hat und im Börsencrash der neunziger Jahre Verluste realisieren musste, dann wird sie heute schon Schwierigkeiten haben, eine genügende Performanz zu erwirtschaften, um ihre Renten zu bezahlen. Wenn es in dieser Branche einige Personalabbaumassnahmen gegeben hat, die über eine «Invalidisierung» älterer MitarbeiterInnen abgewickelt wurden – man hört diese Gerüchte immer wieder, ohne dass es je gelingen würde, diese in genauen empirischen Zahlen nachzuweisen – dann hat diese Kasse jetzt schwere Belastungen am Hals, weil sie ja die Renten bis zum Eintritt des AHV-Alters zu übernehmen hat. Jedenfalls hat sich da ein Pensionskassenmanager aufgeregt und ist an «seinen» Parlementarier gelangt, der sich froh war, ins Rampenlicht der Publizität treten zu dürfen, denn von ihm hat man noch kaum etwas gehört.

»Die zentrale Botschaft dieserFälle ist klar«, sagt Phillip Müller, Aargauer Nationalrat und Bauunternehmer, «wer arbeitet, ist der Dumme«.

Da verwundere es nicht, dass die Zahl der Invaliden rasant zunehme.

»Leute, die nicht auf Rosen gebettet sind, haben ein grosses Interesse daran, ins Staatsnetz zu fallen«.

Abgesehen davon, dass es nicht unbedingt angenehm ist, auf Rosen gebetet zu sein, da diese bekanntlich Dornen haben, wie uns ein volksdümmlicher Schlager belehrt, ist es tatsächlich schwierig, wenn einem Bauunternehmer, Detailhändler und andere in verschiedenen Branchen tätigen Unternehmen schlechte Löhne für die geleistet Arbeit vergüten.

Der so genannte Fall ins »Staatsnetz« ist jedenfalls immer ein Fall vom Regen in die Traufe, allerdings ist ein solcher Fall, dem freien Fall in den Abgrund alle mal vorzuziehen.

Dies nur, um die Relationen wieder zurecht zu rücken.

Denn es sind – nicht  nur  aber vor vor allem – bürgerliche Politiker, die in einer Art »neoliberaler« Begeisterung – manchmal kann man auch von Besoffenheit sprechen – dazu übergehen alle Errungenschaften des sozialstaatlichen Sozialversicherungssystems als Sündenbabel moralischer Verworfenheit zu skizzieren. Der Sozialstaat mutiert unter ihem Diskurs zu einem wahrhaften Sündenpfuhl wo skrupellose Pseudokrüppel sich zynisch am kargen Geld hart arbeitender »Büezer« schamlos bereichern. Irgendwo in der gedanklichen Hinterstube eines Nebensatzes wird jeweils daruf hingewiesen, dass man gegen die »echten« Invaliden rein gar nichts habe, im Gegenteil, es gehe hier nur darum, schändlichem Missbrauch den Riegel zu schieben. In diesem Diskurs wird die andere Seite der Einkommensverteilung, wo tatsächlich schamlos abkassiert wird  – diese immer unter dem Vorwand, man habe eine Leistung erbracht, die aber immer sich aus Leistungen anderer Menschen zusammensetzt – und zweistellige Millionenbeträge als Jahreseinkommen in die heimische Villa chauffiert werden.

Mit dem Artikel vom »Blick« ist eine Diskussion lanciert, welche eine aufgabenbezogene Auseinandersetzung um die Aufgabe der Sozialversicherungen im Allgemeinen und die Invalidenversicherung im Besonderen ausserordentlich erschwert. Denn diese Invalidenversicherung ist tatsächlich überholungsbedürftig.

Schieflagen werden diagnostiziert. Die aktuelle Schieflage der IV ist vor allem eine Schieflage in der Politik, aber davon handelt der Artikel nicht.

Der Artikel berichtet vielmehr über die finanzielle Schieflage der IV und befragt die IV zu den Vorwürfen von Nationalrat Phillip Müller.

Andreas Dummermuth, der Präsident der IV-Stellenkonferenz antwortet und bestreitet, dass die finanzielle Situation der IV-RentenbezügerInnen üppig sei, mit dem Verweis auf eine NF-Studie, die das gezeigt habe. Zudem seien die Filter der IV sehr wirksam, mehr als Dreissig Prozent aller Gesuche würden abgelehnt. Diese hohe Zahl der Ablehnung von Gesuchen sagt allerdings nichts aus, über die Situation jener Menschen, die diese Gesuche eingereicht haben.

Trotz der Argumente der IV bleibt Phillip Müller bei seiner Meinung:

»Wenn das Einkommen steigt, nachdem jemand invalid geworden ist, ist das absolut stossend. Arbeit muss sich wieder lohnen«.

Bevor wir zu den geschilderten Fällen übergehen, wäre als kleine Nebenbemerkung interessant zu wissen, wie stark es sich lohnt bei Herrn Müller auf dem Bau zu malochen, aber wir wollen nicht polemisieren, denn dann würden nur zu hören bekommen, da sei eben der Markt – mit ungefähr sieben «r» knarrend ausgesprochen – am Werrrrrrrrk.

Der »Blick« schildert nun  drei Fälle, von denen er aber nicht bekannt macht, ob es sich um jene Beispiele handelt, von denen Herrn Müller berichtet, er hätte sie von dem nicht genannt werden wollden Pensionskassenmanager erhalten.

Dies wird im Artikel nicht erwähnt, so dass es der Phantasie der LeserInnen überlassen bleibt, solche Verlinkungen herzustellen. Vielleicht ist dies die Absicht der Unterlassen. Der »Blick« lässt diese Fälle von Herrn Dummermuth von der IV kommentieren:

Fall 1:

Iva Kardin (alle Namen sind geändert) verdient netto rund  Fr. 5000.- pro Monat. Er hat die 50 überschritten. Weil er relativ spät in die Schweiz eingewandert ist, wären seine Ansprüche aus AHV/IV und Pesnionskasse nicht berauschend. Er würde nach der Pensionierung nur auf rund Fr. 2400.- pro Monat kommen.

Drei Wochen nach einem scheinbar harmlosen Autounfall verspürt er  Schmerzen in der Nackengegend: Schleudertrauma. Er kriegt von  der Unfallversicherung eine Intergrationsentschädigung von knapp Fr.  50'000.- . Und Unfallversicherung und Invlaidenversicherung zahlen ihm fortan Fr. 5300.- pro Monat. Die beiden Renten werden zusammen auch nachb Alter 65 Fr. 5300.- betragen, lebenslänglich. Kardins Altersrenten werden durch den Unfall mehr als doppelt so hoch sein, wie wenn er bis 65 gearbeitet hätte.

Andreas Dummermuth, Präsident der IV-Stellenkonferenz:

»Wäre Herr Kardin durch Krankheit invalid geworden, wäre seine Rente viel tiefer. Dass ein Unfall-Invalider sogar über das Alter 65 hinaus viel besser gestellt bleibt, kann tatsächlich hinterfragt werden. Parlament und Volk müssen entscheiden, ob das sinnvoll ist. Unterschiedliche Leistungen bei Krankheit und Unfall sind meines Erachtens nicht zwingend nötig. Hier. ist das Parlament gefragt«.

 

Fall 2:

Renate Pfister (Name geändert) ist verheiratet und hat zwei schulpflichtige Kinder. Mit ihrem 50-Prozent-Pensum (früher ware es mehr) verdient sie netto Fr. 27'270.- im Jahr. Ihre Kräfte schwinden, sie wird psychisch krank und invalid. Nun erhält sie: eine persönliche Invalidenrente von 22'704.-; für jedes Kind eine Kinderrente von 9084.-; total also Fr. 40'872.-

Zusätzlich erhält der Ehemann bei seinem Arbeitsgeber noch die normalen vollen Kinderzulagen.

Andreas Dummermuth:

«Ein Teil der Rente von Frau Pfister gründet auf der Tatsache, dass sie zu 50 Prozent Hausfrau war und Kinder aufzog (Erziehungsgutschriften). Leistungen von Hausfrauen, die nicht mit Geld entschädigt wurden, schlagen sich bei der Volksversicherung IV auch in der Rentenhöhe nieder. Zudem: Die Kinderzulagen an den Ehemann haben nichts mit dem Gesundheitszustand der Ehefrau zu tun».

Hier wird bezahlt, was die Frau leistet.

 

Fall 3:

Ruth Meier (Name geändert) hat einen HIV-positiven, invaliden Ehepartner und ein 8-jähriges Kind. Sie verdient mit einer 40-Prozent-Stelle seit vielen Jahren rund Fr. 20'000.- pro Jahr. Sie bricht unter den Belastungen zusammen. Folge: volle IV-Rente. Nun erhält sie:

eine persönliche IV-Rente von Fr. 19'248.- pro Jahr; eine Kinderrente von Fr. 7692.- pro Jahr.

Zusätzlich erhält der invalide Ehepartner zu seiner eigenen persönlichen Invalidenrente eine Invalidenrente für das gleiche Kinde. Sie beträgt Fr. 7788.- pro Jahr.

Die Gesamtrechnung:

19'248 plus 7692.- plus 7788.- ergibt 34'728.- .

Auch wenn jetzt die Kinderzulage wegfällt (weniger als 1000 Franken im Jahr) – das neue Renten-Einkommen ist viel höher als der frühere  Lohn.

Andreas Dummermuth:

»Auch Frau Meier profitiert jetzt von ihrer früheren Hausfrauen-Arbeit und den Erziehungsgutschriften. Aber warum bekommt auch er eine Kinderrente? Man geht davon aus, dass die Mutter nicht mehr wie  früher zum Kind schauen kann. Und Fremdbetreuung, zum Beispiel in einem Heim, ist teuer«.

Die drei Fälle zeigen, wie die Logik der Invalidenversicherung funktioniert. Sie ist ganz auf die Erhaltung des Arbeitsvermögens ausgerichtet.

Das erklärt vermutlich auch die stossende Unterscheidung von Krankheit und Unfall im ersten Beispiel. Latent bleibt gegenüber demjenigen der krank wird, ein Vorwurf des Selbstverschuldens, der etwa bei einer HIV-Infektion latent immer vorhanden, während Unfall mit Schicksal und Nicht vorhersehbarkeit konnotiert ist.

Hier könnte man tatsächlich ja auch sagen, dass niemand in ein Auto sitzen muss, man weiss ja, dass es bei Zusammenstössen zu Schleudertraumata kommen kann.

Eine stossende Unterscheidung in der Tat, aber stossend, weil in zynischer Art und Weise bei beiden Argumenten ein hohes Mass an Selbstverschulden unterstellt wird.

Die Fälle der beiden Frauen zeigen, dass ihnen erst in einem Zeitpunkt geholfen wird, wo ihre Arbeitsvermögen durch die Überbelastung der verschiedenen Pflichten (Arbeit, Kinderbetreung, Haushalt, Pflege)  runiert ist. Jetzt werden die wahrgenommenen Funktionen durch die Invalidenversicherung aufgenommen und monnetarisiert.

Ein Stück gesellschaftlicher Gratisarbeit der Frauen wird sichtbar.

Diese Gratisarbeit wird insbesondere bei jenen Arbeitgebern, die gerne in ihren Sonntagsreden von der Familie als der Keimzelle des Staates schwadronieren, am Montag beim Ausfüllen der Lohnlisten wieder eingespart.

Die Beispiele, die der Blick ausgewählt hat, verweisen auf die oberflächliche Betrachtung des Aargauer Nationalrates. Man ist versucht zu sagen, dass halt jeder so argumentiert wie er kann, wenn man dahinter nicht vermuteten würde, dass hier einer vorgeschickte wurde und sich willig vorschicken liess, für etwas, wo er tatsächlich nicht anders zu argumentieren in der Lage ist, als er es tut, aber er tut es eben im Auftrag eines ganz anderen Interesses, eines Interesses nämlich, dass den sozialstaatlichen Kompromiss aufzulösen versucht.

Dennoch ist es mit der Polemik dieses einfachen Nationalrates möglich geworden, dass sich wieder rechtfertigen muss, wer auf die gesellschaftliche Solidarität angewiesen ist.

Irgendwo heisst es doch »wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern« – ob die Schwestern mitgemeint waren, bleibe dahingestellt, nehmen wir mal an, es sei so gemeint. Der neoliberale Diskurs bringt es zwar fertig, Solidarität schön zu reden, ihre Inanspruchnahme dann  über den Filter eines grundlegenden Misstrauensverwurfs, unter ein moralisch negatives Vorzeichen zu stellen und damit implizit zu beschämen.

Es würde zu weit führen, hier jetzt zu einer Erklärung der Bedeutung von Schamgefühlen für die Regulierung von normativen System zu erläutern.

So viel sei immerhin gesagt,  sicher ist, dass sie eine wichtige Rolle spielen, indem sie in sehr subtiler Art und Weise, bestehende gesellschaftliche Stratifikationen über die Wahrnehmung der Subjekte absichern.