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»Der Fall wird von der ungläubigen Öffentlichkeit mit Staunen und Kopfschütteln verfolgt. Und die Angestellte, die durch ihre Anzeige die ganze Geschichte ins Rollen brachte, ist heute verbittert. Damals schlug sie Ratschläge in den Wind, die sie warnten, sich gegen eine so einflussreiche Person im Tessin zu stellen. Inzwischen hat sie ihren Job verloren und ist krank. Für viele Beobachter zeigt der Fall Realini, dass es heute ein Justizsystem zweier Geschwindigkeiten gibt. Schlaue und meist hochbezahlte Anwälte können Verfahren für vermögende Kunden ewig in die Länge ziehen. Für Personen mit Durchschnittseinkommen liegt so etwas nicht drin«.

Der Psychiater bezieht zudem eine IV-Rente, da er seine Arbeitsfähigkeit teilweise eingebüsst hat. Soweit eine banale Meldung über einen laufenden Betrugsprozess im Süden der Schweiz.

Interessant wird diese Meldung im Zusammenhang mit sozialer Konstruktion von Behinderung allerdings erst, wenn man sie in den Zusammenhang mit der Schlagzeile der Zeitung auf Seite 14 (region.stadt) stellt, einer Geschichte aus dem Norden der Schweiz, wo es heisst:

»Nichtstun kann zu Gewalt führen. Der Konfliktforscher Johan Galtung referierte in Basel über Gewaltursachen« und »Gewaltopfer werden eher gewalttätig. Falsche Vorbilder, zu wenig Prävention, aber auch Vererbung werden als Gewaltursachen gehandelt«.

Johan Galtung – ich erinnere mich noch an seine Vorlesungen an der Universtitä Zürich, wo er anfangs der siebziger Jahre, denke, es war wohl im Sommer 1972, eine Gastprofessur innehatte. In der Pause brachte ihm seine Frau jeweils einen Tee, was mich etwas irritierte. Als ehemaliger Physiker zeichnete er die Wandtafel immer mit Vektoren voll, um uns sein Konzept von struktureller Gewalt näher zu bringen. Diese Vorlesungen, oder Teile davon sind später auch auf Deutsch erschienen (Vgl. Galtung (1978).

Johan Galtung ist sein ganzes wissenschaftliches Leben lang nie müde geworden, darauf hinzuweisen, dass strukturelle Gewalt immer auch zu manifester Gewalt führen kann. Da Macht institutionalisiert ist, sind eben die herrschenden Verhältnisse der Herrschenden.

Johan Galtung sagt im Interview:

»Frage: Geht es also darum, das Bewusstsein zu schaffen, dass es Schwarz oder Weiss Grautöne gibt?

Galtung: Das ist im Westen sehr kompliziert. Wir sind meistens «oben», also sehen wir den Druck von »unten« durch direkte Gewalt. Die Gewalt aber, die wir selber ausüben, sehen wir nicht. Die ist nicht bequem. Im Allgemeinen ist man im Westen sehr primitiv, wenn es um Konflikte geht. Man sieht die Aktionen, die gewalttätig sind. aber man sie nicht die Unterlassungen. Hunderte von Millionen Menschen tun nichts, wenn die strukturelle Gewalt Menschenleben vernichtet«.

Die Primitivität des Westens, die Johan Galtung anspricht, besteht genau in jener kulturell hergestellten Unschuld und veranwortungsentlasteten Ohnmacht, die sich darin zeigt, dass, wenn »der Markt« die Preise für irgendwelche in Afrika angebauten Rohstoffe sinken lässt, dass wenn dort Bürgerkriege ausbrechen, dass »wir« dann  damit nichts zu tun haben, ausser dass unsere Schokolade, Kaffe oder Autopneus nicht viel teurer geworden sind.  Und genau so ist auch dann, wenn Menschen in Rollstühlen zu bestimmten Häusern keinen Zugang haben, denn »wir« haben die Häuser ja nicht gebaut, wir haben allerdings auch nichts dafür unternommen, dass sie abgerissen und neugebaut oder wenigstens umgebaut worden wären.

Strukturelle Gewalt scheint schwer vorstellbar zu sein und wie immer muss im Gespräch ein ideologisches Missverständnis des Konzeptes der strukturellen Gewalt noch geklärt werden:

»Frage: Nochmals zur strukturellen Gewalt: Grundsätzlich könnte man einwenden: Wenn man sie erwähnt, nimmt man dem Einzeltäter die Verantwortung.

Galtung: Überhaupt nicht. Es geht um die Verantwortung für konkrete Handlungen um die Verwantwortung für Unterlassungen. Hier befindet sich noch ein Schwachpunkt des westlichen Denkens. Man sieht es im juristischen und christlichen Denken, man sieht es überall: Man betont nicht die Unterlassungen, also das, was man nicht tut, um etwas Übles zu vermeiden«.

Anders gesagt, alles was man nicht getan hat, kann auch etwas sein, was man jemandem angetan hat, weil man nicht aktiv geworden ist.

Es ist bedeutsam, dass im Kontext eines Konzeptes wie »strukturelle Gewalt«, die Assoziation sich einstellt, mit einem solchen Konstrukt entlasse man Täter aus ihren indivuduellen Veranwortungen. Fast macht es den Anschein, als habe das Denken des Gesellschaftlichen hierzulande einen gewaltigen Schaden erlitten, sei es behindert worden und werde es in seiner Entwicklung ständig wieder behindert.

 

Literatur:

Galtung, J. (1978). Methodologie und Ideologie. Aufsätze zur Methodologie. Frankfurt am Main, Suhrkamp.