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Die NZZ am Sonntag hat aber noch andere Meldungen, die im Hinblick auf Behinderung interessant sind. Die Biografie von Art Furrer, dem Erfinder des Royal Flush im Skifahren und Begründer der Skiakribatik. Er war Skilehrer und Bergführer. Er lebt heute als erfolgreicher Hotelier, der sieben Hotels besitzt, im Oberwallis und gibt der genannenten Zeitung auf Seite 83 ein Interview in der Rubrik «Gesellschaft» unter dem Stichwort »Familienalbum«.

Die Frage der Zeitung:

»Stimmt es, dass Sie mit einem zweifach amputierten Deutschen das Breithorn bestiegen?«

Art Furrer: »Franz Merkt, so hiess der Mann,  lernte ich  in Pontresina  kennen. Er   stürmte ständig, daß  er  auf einen Viertausender wolle. Es  gebe  da allerdings  ein kleines Handicap. Er habe im 2. Weltkrieg beide Beine verloren.  Da ich sensibel war für Leute, denen ist nicht so gut geht, dachte ich: Okay, nimmst den armen Siech halt mit. Im Sommer 1960 stiegen  wir über den Theodulgletscher aufs Breithorn. Doch der Abstieg war Wahnsinn. Ich hatte Franz am Strick, doch er brach immer wieder ein. Als  er sich nicht mehr  bewegte,  drehte ich mich um: Eine Holzprothese steckte samt Socken und  Schuh vier Meter weiter  hinten im Schnee. Doch ein Jahr später stürmte Franz wieder. Er wolle auf den Montblanc. Ich  erhöhte extra den Tarif, in der Hoffnung, es wäre ihm zu teuer. Aber Franz sammelte bei Freunden Geld, bis er die in tausend Franken beisammen hatte.  Im September 1961 bestiegen wir zusammen den Mondblanc«.

Art Furrer wurde seiner Zeit aus dem Skilehrerverband ausgeschlossen. Vielleicht hat ihm das geholfen, seinen eigenen Weg zu gehen und das zu entwickeln, was später Skiakrobatik genannt werden sollte.

Art Furrer erklärt seinen Ausschluss aus dem Skilehrerverband wegen seines unorthodoxen Fahrstils mit dem Umgang des Wissens, den jene Institution pflegte: »Die Päpste vom Skilehrerverband aber hatten – gewöhnlich wie die Jesuiten im Kollegi – ihre Dogmen und pflegten militärische Lehrmethoden mit einem Skiplan, der noch aus dem Ersten Weltkrieg stammt. sie sagten, das Körpergewicht müsse auf den Talski verlagert werden. Ich aber sagte: Warum soll einer, der lieben den Bergiski belastet, nicht auch den Bergski belassten? So schuf ich die Anfänge der Skiakrobatik. Es entbrannte ein Streit über den «richtigen» Skistil, worauf ich aus dem Verband geschmissen wurde«.

Skiakrobatik ist in einem gewissen Sinne die Sonderpädagogik des Skifahrens. Selbstverständlich ist auch diese Erfindung selbst wieder institutionalisiert werden und kennt heute ihre eigenen Päpste.

Wie sagt doch die Institutionsanalyse?

Nach dem Propheten kommt die Kirche.

Zwei Seiten weiter vorne berichtet die gleiche Zeitung über die Schwierigkeiten  von Akademiker-Kindern, den sozialen Status ihrer Eltern zu erreichen. Das gelingt nur knapp zwei Dritteln, rund vierzig Prozent werden keine Akademiker.

Ein schöner und deutlicher empirischer Hinweis auf die Bedeutung des Habituellen in der Gesellschaft. Aus soziologischer Perspektive betrachtet, ist dieses Finding nicht besonders erstaunlich.

Das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist so strukturiert, dass es die Mobilität zu bahnen trachtet, eben durch die institutionsabhängigen Austrittswahrscheinlichkeiten im Schulsystem. Auch das bürgerliche System kennt seine «Feudalordnung». Und in diesem spielen die familiären Ressourcen und das über das familiale System transportiert soziale und kulturelle Kapital eine extrem wichtige Rolle. Dass nach der vor fünfzig Jahren erfolgten Mobilisierung von »Bildungsreserven« und dem teilweisen Öffnen und Zugänglichmachen der Bildungsinstitution für bisher davon ausgeschlossene gesellschaftlichen Strata, was sich unter anderem auch im Verschwinden des Lateinischen aus den gymnasialen Abschlüssen manifestiert hat,  nun wieder einmal eine gewisse Konsolidierung angesagt ist, korrespondiert dieses Faktum ja auch schön mit den instituionellen Neuordnungen im Bildungssektor, wo sich ja eine dritte Ebene, die sich mit der Pflege, der Wartung und den Updates des Humankapitals und dessen Qualität befasst.

Mit dem Motto des lebenslangen Lernens entsteht gleichsam auch das Verfalldatum von Bildungsabschlüssen, auch ein BA kennt sein »best before ....« und wenn dieses erreicht wird, ist ein NDS angesagt.

Insofern macht es Sinn, dass Bildungsstatus weniger familial gekoppelt ist; das führt zu wachsenden Nachfragen auf dem Bildungssektor und eröffnet Anbietern neue, bislang so noch nicht gekannte Marktchancen.

Die »Familien«  stellen auch in einem anderen Beitrag in der NZZ am Sonntag auf Seite 71 unter dem Titel »Wenn Frauen trinken« ein wichtiges argumentatives Moment.

Unter der Leitung von Martin Sieber, wurden an der Forel Klinik in Ellikon TG 529 männliche und 140 weibliche PatientInnen untersucht.

Die Ergebnisse verweisen darauf, dass Männer in Ellikon die Behandlungen mit einem besseren Erfolg abschliessen als Frauen. Martin Sieber ist Titularprofessor an der Universität Zürich, leitet die Forschungsabteilung der Forel-Klinik und führt eine Praxis in Zürich. Er ist ein Fachexperte für Suchtfragen seit vielen Jahren.

Der Artikel ist insofern interessant, als er auf den »gender-« Aspekt hinweist, der eine Rolle spielt im Hinblick auf die Differenz bei Therapieerfolgen zwischen Frauen und Männern und er ist dann wieder durch diese Geschlechterforschung relativ beschränkt, weil er nicht zu erklären vermag, was den bei den Frauen anders funktioniert.

Die von der Zeitung befragte Expertin Irmgard Vogt, Direktorin des Instituts für Suchtforschung an der Fachhochschule für soziale Arbeit und Gesundheit in Frankfurt, sieht denn auch in den Ergebnissen der Studien nichts Neues, als das was sie schon lange wusste, dass es nämlich einen Unterschied macht ob jemand als Mann oder als Frau verheiratet sei, usw.

Und sie sagt, zweifellos würden die bei der Forel-Klini-Untersuchung gemachten Differenzen auch für andere Suchtkrankheiten zutreffen.

Das Problem scheint darin zu bestehen, dass Frauen sehr viel weniger als Männer von Ehen und Partnerschaften profitieren als Männer, sie würden aber auch nicht davon profitieren, wenn sie sich trennen würden.

Die Frauen scheinen Verlierinnen zu sein. Unter diesen Umständen kann man sich fragen, warum denn die Frauen überhaupt Beziehungen eingehen.

Aber vielleicht ist das eine politisch nicht korrekte Frage, dann sollte ich sie lieber nicht stellen, weil man mich sonst deswegen kritisieren und angreifen könnte.

Die Ergebnisse der Studie zeigen eine relativ hohe Rückfallhäufigkeit bei Frauen, unabhängig davon, ob sie in die alte soziale Umgebung zurückgehen oder nicht.

Warum dem so ist, ist auch für die Expertin nicht einfach zu beantworten.

Frau Vogt vertritt die Meinung, dass im psychosozialen Bereich der Genderunterschied noch viel zu wenig in Prävention und Therapie berücksichtigt werde.

Während bei Männern der Umstand, dass sie für Kinder Verantwortung zu übernehmen hatten, im Hinblick auf Abstinenz hilfreich war, trat dieses Phänomen bei Frauen nicht auf, im Gegenteil können solche Verantwortungen zu Mehrbelastungen führen, die wieder zur Flasche greifen lassen.

»Dafür spielte bei Frauen das Vorhandensein einer nahen Vertrauensperson (die nicht der Ehepartner ist) eine entscheidende Rolle: Alle Frauen, die keine solche Vertrauensperson hatten, begannen wieder zu trinken. Bei den Männern war das Vorhandensein einer Vertrauensperson weniger ausschlaggeben, offenbar übernimmt hier die Ehefrau oder Partnerin diese Funktion, was umgekehrt nicht der Fall ist«.

Wieder stellt sich die Frage nach der Konstruktion des »Partners« aus der Perspektive der Frauen.

Dieser Frage wird allerdings im Zeitungsartikel nicht nachgegangen.

Die Reaktion der Expertin laut dem Artikel: »Bei der Belastung durch Kinder sieht Imrgard Vogt nocht viele offene Fragen, die es durch weitere Forschung zu klären gelte. In der Studie der Forel-Klinik werden zum Beispiel das Alter der Kinder nicht eine bezogen, das eine wichtige Rolle spielen könnte:«Junge Kinder können eventuell einen Schutzfaktor darstellen, wärhend Kinder, die aus dem Hause gehen, ein Risikofaktor wären«.

Schade, denkt man, dass in der Studie das Alter der Kinder offenbar nicht erhoben worden ist. Und man fragt sich, weshalb dieses Datum nicht erhoben worden ist.

Andererseits: Was hat die Studie gezeigt?

Männer und Frauen weisen unterschiedliche Rückfallwahrscheinlichkeiten auf. Männer und Frauen scheinen Beziehungen zu Unterschiedlichem zu gebrauchen. Das sich das auch im sogenannten Suchtverhalten wieder zeigen könnte, das war allerdings nicht unbedingt neu, aber es hat sich hier als empirische Evidenz gezeigt.

Und schliesslich findet sich auf Seite 17 (Rubrik Schweiz) der gleichen Zeitung noch der Bericht über den Tessiner Psychiater Prof. Dr. med. Renzo Realini, der nun vor Gericht kommt, weil er offenbar die Krankenkassen um 22 Millionen Franken betrogen haben soll. Die wirkliche Höhe der »Deliktsumme« ist nicht so eindeutig, wie es scheint. Denn der Mann hat sich allerdings aussergerichtlich mit Santésuisse, dem Dachvberband der Krankenkassen geeinigt, so dass er 10 Millionen zurückbezahlt hat. Es scheint nur noch über 12 vermutlich unterschlagene Millionen zu verhandeln  zu sein. Der Mann ist zudem sehr arbeitswillig, wie die Zeitung zu vermelden weiss:

»Anfang März hatte das Tessiner Verwaltungsgericht dem Psychiater, der eine Teilinvalidenrente bezieht, erlaubt, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Seine Anwälte argumentierten, dass ihr Mandant seine Arbeitsfähigkeit bis zum zuulässigen Mass ausschöpfen solle. Das Tessiner Gesundheitsamt untersagte jedoch die bereits angekündigte Praxiseröffnung kurz darauf aus standesethischen Gründen«.

Wie heisst es doch »Eingliederung vor Rente«, was hat das mit Ethik zu tun und gar jener eines Standes, oder sollte es sich hier möglicherweise um einen Fall, der von Nationalrat Toni Betroluzzi und Bundesrat Dr. Christof Blocher erwähnten «Scheininvalidität» handeln?

Wir wissen es nicht.

Die daily soap-opera des Sozialversicherungsdiskurses liefert vielleicht eines Tages Aufklärung und bringt Licht ins Dunkel, jedenfalls war der Psychiater fleissig, laut den Statistiken der ihn anklagenden Staatsanwaltschaft hatte er bis zu dreissig Stunden im Tag gearbeitet, da kann man nur sagen, endlich einer der den Spruch »carpe diem« mal ernst genommen hat, zu ernst vielleicht, denn so ist er denn doch nicht gemeint, alles, was recht ist.

Zum Abschluss noch ein richtiger Schocker: S. 53 (Rubrik Invest) Titel unsere Zeitung: »Pflegefall als grosses Risiko. Rentner stossen bei ihrer Finanzplanung auf ein Hindernis: Später auftretende Pflegekosten lassen sich kaum integral versichern«.

Die Versicherungen mochten sich laut dem Fazit des Artikels nicht zu innovativen Pflegeversicherungen durchringen.

»Die integrale Sicherheit im Pflegefall ist derzeit auch mit gutem Prämiengeld nicht erhältlich. Viele brauchen sie auch nicht, da sie zu Hause bleiben können - betreut von Spitexdiensten und Familienangehörigen«.

Denn so lässt sich argumentieren, es wäre einfach kein gutes Geschäft.

Versicherungen schliesst man ja vor allem deswegen ab, dass die Versicherung ein Geschäft macht – das ist der shareholder wegen, wie man weiss –  und der Versicherte seine Verunsicherung beruhigt hat.

Denn im Notfall gibt es die Familie und die Spitex.

Daneben lebt aber vor allem rund eine Million Singels irgendwo in unseren schönen präurbanen Agglos. Sie haben im Zug der sich entwickelnden Konsumgesellschaft gelernt, sich nicht wirklich zu binden und »Optionen« wahrzunehmen, eher »short timed«.

Vielleicht öffnet sich hier ein neuer Markt für aufgestellte Singles ab 55:

»Suchen Sie sich rechtzeitig ihren (Pflege-)Partner, gönnen Sie sich eine Hochzeit in weiss und organisieren Sie sich so Ihre Sicherheit im Alter«.

Bisher ungeahnte neue Berufsfelder für Gerontagogen können sich heir öffnen. Beziehungsanbahnung und Beziehungscoaching.

Unser Tip: »Lieber reich und gesund als arm und krank!« und »Investieren Sie lieber klug als dumm«.