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Es ist im Zusammenhang mit der NFA interessant, welche Angst besteht im Hinblick auf eine Kantonalisierung bisher zentralisierter  Aufgaben. Es ist auch eine Angst vor der Differenzierung. Differenzierung bedeutet immer auch «Ungleichheit» und mit der Feststellung des Unterschieds wird bereits auch eine Bewertung dieses Unterschiedes antizipiert. Und zweifellos hängt diese Angst auch damit zusammen, dass die soziale Distanz, die sich zur Zentrale aufbaut auch ein Schutz sein könnte, für jene, die schwach sind und sich als schwach empfinden, die im sozialen Nahbereich, wozu im Verhältnis zum Bund der Kanton gewiss eher gehört, sich weniger zutrauen, sich zu Wehr setzen zu können, gegen Angriffe auf ihre Interessen.

Die BaZ plaziert heute in der Rubrik «region.stadt» in der Ausgabe vom 1. November 2004 (das Datum des Brandes von Schweizerhalle als wir alle hier die Situatin von  Ohnmacht erlebten – wie rasch vergessen, eine Situation, die gottseidank nur gefährlich war, nur Fische und andere Lebenwesen im Rhein tötete und die Menschen am Leben liess) einen Artikel mit dem Titel: «Rezepte gegen Rentenanstieg sind rar. Eine Tagung zeigte auf, warum die Reintegration psychisch Kranker kaum gelingt».

Die Tagung stellt eine Vielzahl von Gründen fest, weshalb Menschen psychisch krank werden. Ein wichtiger Grund dafür besteht nicht zuletzt darin, dass ÄrztInnen diese Menschen als psychisch krank diagnostizieren.  Es wird moniert, dass die bestehende institutionelle Regelung die soziale Rehabilitation und die berufliche Eingliederung voneinander trennen würden. Eine Eingliederungsfachfrau der IV-Stelle Basel wird zitiert:

«Viele Versicherte und ihre Psychiater verlangen von uns berufliche Massnahmen, um die Heilung voranzubringen – aber es ist genau umgekehrt: Zuerst muss der Patient stabil sein» (vgl. NZZ, Nr. 252, 29. Oktober 2004, S. 15).

Wenige Tage zuvor hatte der Psychiatrieprofessor aus Zürich gesagt, dass Arbeitslosigkeit als ein Angriff auf die psychische Gesundheit eines Menschen zu werten sei.

 

Der Diskurs innerhalb und zwischen den Institutionen neigt dazu, zu einem Schwanzbeisser zu ähneln. Wer anfällig ist, auf Stress (vielleicht wegen seines unterdurchschnittlichen Geburtsgewichts (vgl. NZZ vom 27. 10. 04, Forschung und Technik), hat eine bessere Chance psychisch zu erkranken. Wer psychisch labil ist hat eine bessere Chance, seine Arbeitsstelle zu verlieren. Wer seine Arbeitsstelle verloren hat, hat eine bessere Chance, psychisch zu erkranken. Wer psychisch erkrankt ist hat eine bessere Chance, keine Arbeitsstelle zu erhalten, wer keine Arbeitsstelle hat, hat eine bessere Chance, psychisch krank zu bleiben.

 

Es kommt aber noch dicker in diesem Beitrag des Basler Zeitung:

Der Leiter der PUP-Zweigstellen wird zitiert:

«Bei Leuten, die unbewusst gelernt haben, mit körperlichem Schmerz von anderen Zuwendung zu erzwingen und Konflikte abzudämpfen, nehmen die Schmerzen trotz Therapien oft noch zu, solange der IV-Antrag läuft».

Mit der Aussicht auf eine IV-Rente werde das Kranksein belohnt und nicht das Gesundwerden. Und das fatale am Argument ist der unbewusst verlaufende Lernprozess, da er unbewusst ist, weiss die betroffene Person das gar nicht, wie gut, dass wir Experten haben, die das festellen können, vielleicht sind alle, die Schmerzen haben so......?

Hier wird nun die ganze Geschichte von den Füssen auf den Kopf gestellt. Der Vorwurf geht an das «System», das offenbar die falschen Anreize setzt, die Betroffenen wollen gar nicht mehr gesund werden. Nicht mehr gefragt wird, aus welchen Anreizen heraus der Betroffene krank geworden ist. Und in jenes Anzeizsystem soll er ja offenbar zurück. Und dann sind da noch jene Phänomene, wo offenbar Menschen unbewusst gelernt hätten, über das Empfinden von körperlichem Schmerz von anderen Menschen Zuwendung zu erzwingen, viel zynischer geht es wohl nicht mehr.

So etwas ist doch glatte Erpressung, ist man versucht auszurufen. Und es kommt einem in den Sinn, dass es sich hier ja um Fälle typischer Scheininvalidität handeln könnte. Menschen, die gierig auf «unsere» sauer verdienten und vom Staat abgepressten Steuergelder sind.

Der Basler IV-Stellenleiter Paul Meier wird  weiter im Artikel zitiert: «Wenn die körperliche Kraft eines Bauarbeiters nachlässt, gibt es nur einen Weg: Ein Psychiater stellt die Diagnose «psychisch krank».

Und die Replik:

«Auf diese Weise würden sozialpolitische Fragen individualisiert und medizinalisiert, kritiesierte Murer. « Die Medizin wird missbraucht».

Erwin Murer ist Professor für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht (an der Universtität Basel?).

Wer missbraucht wen? Ist die Metapher des Missbrauchs in solchem Zusammenhang überhaupt eine sinnvolle und wo bleiben schliesslich die Menschen, die zunächst einfach Schmerzen haben und dieser Schmerzen wegen nicht mehr arbeiten können?

 

 

Die positive Meldung des Tages findet sich auf der gleichen Seite (BaZ, 1.1..04, S. 21) als Kurzmeldung:

«Behinderte leiten ein neues Hotel.

BAU STEHT. Für die Nordwestschweiz ist es ein Novum: Im Breite-Quartier wird ein hindernisfreies Hotel eingereichtet, in dem Angestellte mit einer körperlichen oder geisten Behinderung arbeiten. Die Aufrichte fand kürzlich statt. In einem Jahr soll «DASBREITEHOTEL» eröffnet werden. Bereit stehen sollen bis dahin 35 Zimmer mit 3-Sterne-Komfort. Hinter dem Hotelprojekt steht der gemeinnützige «Verein zämme – das andere Hotel», der ovn der GGG, weiteren Stiftungen und vom Bund unterstützt wird».

Über allen diesen Meldungen und Diskussionen hängt das Omen der «Scheininvalidität». Damit ist ein unglaublich effektiver Spaltmechanismus in die Debatte eingeführt worden, der es ermöglicht indiviudalisierende Schuldzuweisungen vorzunehmen. Gegen wirkliche Invalide habe man nichts, nur gegen die Heuchler, sagen die Heuchler der sozialen Gerechtigkeit, die ganz einfach das Geschäft der Zerstörung gesellschaftlicher Solidarität betreiben. Ein Schreinermeister aus dem Säuliamt, aus einer eingebürgerten Einwandererfamilie stammend, etwas übergewichtig, mit gutem Humor, heute im nationalen Parlament und später vielleicht mal Regierungsrat in seinem Kanton, steht an vorderster Front, wenn es diese Botschaft zu verzetteln gilt.

Es gilt, die Ideologie der Vereinzelung genauer zu verstehen. Diese Ideologie belastet bereits die Inanspruchnahme einer Hilfe mit einer moralischen Schuld.

Dahinter liegt das Phantasma, Menschen seien gesellschaftliche Monaden, vollständig autonome Einzelwesen.

Wie in jeder Ideologie besteht das Bild aus einer Reihe von denkstilmässigen Kurzschlüssen.

Es wird zwar auf Autonomie fokussiert, auf familäre Bindungen konsequenterweise wird aber nicht verzichtet.

Die Differenz zu einer willkürlich festgelegten Norm – allen normativen Regelungen eignet zwangsweise ein Moment der Willkür – wird unmittelbar moralisch bewertet, als Versagen und das Versagen wird einer mangelnden Motivation und Anstrengung zugeschrieben.

Behinderung ist ein Verhältnis zwischen Menschen. Verhältnisse sind Einrichtungen des Verhaltens, die bestimmten Vorannahmen über dieses Verhalten entsprechen, und die so eingerichtet werden, dass sie diesen Vorannahmen zu entsprechen vermögen.

Das ist die eine Seite, wie Behinderung gefasst werden kann. Sie ist produktiv.

Daneben gibt es eine andere Seite der Behinderung, die ausgeht vom eingerichteten Verhältnis. Hier geht darum, über die Grenzziehungen zu streiten, zwischen Behinderung und Nicht-Behinderug. Hier wir mit Normalitätsbegriffen operiert, deren Anwendungen immer und überall Gleichheitsvorstellungen, aus denen Gleichberechtigkeitsforderungen abgeleitet werden, verletzen und damit in Frage stellen.

Mit Normen und Normativität kann immer gespielt werden.

Die Orientierungspunkte selbst sind Konstruktionen bestimmter sozialer Zeiten und Ort und sind damit als solche der Relativität anheimgestellt.

Ein Irrtum besteht nun darin, aus der Relativität bestimmter bestehender Wahrheiten auf die Beliebigkeit des Wahrheitsgehaltes irgendeiner Aussage zu schliessen, geradeso, als ob es keine Folgen hätte, wie etwas gefasst wird.

Die Fassung von etwas hat immer Folgen und es ist wichtig, zu wissen, unter welcher Leitdifferenz ein Verhältnis gefasst wird.

Menschen mit einer Behinderung werden in unserer Zeit als ökonomische Belastung der Allgemeinheit aufgefasst, wenn sie nicht in der Lage sein sollten, für ihnen Lebensunterhalt selbst aufzukommen.

Eine Verkehrung von Mitteln und Zwecken ist entstanden.

Die Produktion erscheint als ein Zweck für sich selbst, der auch beansprucht auf die Menschen selbst zugreifen zu können, während die Menschen sich dieses Verhältnisses oft noch kaum, oder schon wieder nicht mehr bewusst zu sein vermögen.

In die Grundannahmen allen Denkens gehen implizite Normalitätsvorstellungen ein, etwa, dass unser Körper funktioniert, dass das Gehirn funktioniert, dass alle Sinne funktionieren usw.

Die Behinderungsforschung vermag dann jeweils zu zeigen, welche Implikationen  diese Grundannahmen haben, wenn eben bestimmte solcher Funktionen ausfallen oder anders funktionieren, als erwartet.

Zugespitzt bedeutet das aber auch, dass in allen Vorstellungen von Vernunft genau solche impliziten Grundannahmen fallen.

Wenn wir auch das weiterdenken und zuspitzen, dann landen wir über die exakte Anwendung der Naturwissenschaften wieder beim Höhlengleichnis des Platon und können wieder nichts mehr erkennen als die Schatten des durch uns erzündeten Feuers an der Wand.

Zwar hat man sich in der Wissenschaft von der Vorstellung, die Welt so zu erklären, wie sie wirklich ist, inzwischen seit etwa 100 Jahren langsam genug verabschiedet. In der sogenannten wirklichen Welt, d.h. in der Welt in der wir leben und von der die Wissenschaften, zumal die Naturwissenschaften einen gewissen Teil – in einem gewissen Sinne sogar einen sehr wichtigen Teil ausmachen, weil von den Anwendungen ihres Wissens ein grosser Teil dessen kommt, was diese Welt am Laufen erhält – ist man jedoch von solcher Relativierung weit entfernt.

Es findet viel mehr eine Zweiteilung statt, die in einer Beliebigkeitsvorstellung auf der einen Seite mündet und in einer objektivistischen Sicht der Welt auf der anderen Seite.

Der Trend des Diskurses läuft darauf hinaus, dass bislang als «erwerbbar» betrachtete Positionen neu als «zugeschrieben» imaginiert werden. Dies geschieht sehr oft im Rekurs auf das naturwissenschaftliche Denken und mit einem gewissen Staunen dürfen wir zur Kenntnis nehmen, wie stark die Gene oder die Hirnfunktionen, oder was weiss ich nicht alles, beeinflussen.

Dabei ist es vollständig unbestreitbar, dass diese Elemente eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend ist die Aufgabe, die ihnen zukommt.

Wenn Dicksein und Dickwerden eine Frage der Gene geworden ist, dann stellt sich die Frage nach dem Verhalten des Einzelnen, seiner Modulation und Steuerung nicht mehr direkt als ein Problem seiner selbst. Ihm wird die Verantwortung dafür aus der Hand genommen.

Leicht lässt sich dieser Argumentation auch ein faschistoider Kick geben.

Wenn es denn so ist, lassen sich die Kosten rechnen, die aus der Verfettung bestimmter Mitmenschen auf die Gesellschaft insgesamt kommen.

Eine Kosten-Nutzenrechnung, die für sie schlecht ausfällt, liesse dann die Überlegung zu ob man aufgrund gendiagnostischer Kalküls nicht auf die Übergewichtigen überhaupt verzichten könnte, indem man sie beispielweise nicht mehr sozial versichern würde oder gerade gleich abtreiben liesse.

Wir wären dann in einer unerwünschten Art und Weise, dem vom Sloterdijk beschworenen Zustand einer technischen Züchtung der Menschen einen weiteren Schritt näher gekommen und die Niederlage des Nationalsozialismus hätte sich bloss als ein Stolpern auf dem Weg zur Faschisierung der Gesellschaft entpuppt. Huxley hat in der schönen neuen Welt» schon fast alles vorgedacht.

Wenn ich das hier formuliere, dann bedeutet das keineswegs, dass ich solchen Ideen positiv gegenübstünde, noch dass ich ihr Eintreten für unvermeidbar hielte.

Im Gegenteil, glaube ich mehr denn je an die Möglichkeiten des aufklärerischen Denkens und der kritischen Theorie, deren Aufgabe gerade darin bestehen muss, solche Moment des Normalen in der Behinderung aufzudecken, und zu zeigen, wohin ein verkürztes Denken – ein aus welchen Motiven heraus auch immer verkürztes – zu führen vermag.