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Über Mittag treffe ich D., den Ethnologen; er erzählt mit von einem Zitat von Alberto Eiguer, einem Psychoanalytiker, das er in seinem Büro aufgehängt habe, worin der Wunsch und der Wille unterschieden werden.

Wenn Wunsch und Wille zusammenfallen, dann verlieren die Wünsche ihre utopische Potenz. Man kann auch sinnvoll nach etwas streben, das man nie erreichen wird.

Christopher Reeves Traum hat sich nicht erfüllt. Die Forschung war weniger schnell als es für ihn gut war.

20minuten bringt ein Farbbild von ihm und seiner Frau auf der Titelseite und einen halbseitigen Artikel auf Seite 22, wo der Zürcher Neurologieprofesser Martin E. Schwab (54) mit den Worten zitiert wird: »Er wusste, dass es wenig Hoffnung gab für ihn. Als ich ihn vor einem Jahr traf, war er in guter körperlicher Verfassung. Aber für einen Querschnittgelähmten ist jeder Schnupfen lebensgefährlich – oder eine Infektion  der Druckstellen, die durch das viele Liegen auftreten«.

Eine solche Infektion erlitt Reeve offenbar letzte Woche; ihre Komplikationen führten zum Herzstillstand.

J. erzählt mir dann am Vormittag, dass Reeves in der Behindertenbewegung umstritten gewesen sei, die Gründe dafür, die er mir genannt hat, habe ich sogleich wieder vergessen. Offenbar haben sie damit zusammengehangen, dass Reeve seine Behinderung nicht akzeptieren wollte. Aber wie gesagt, das weiss ich nicht so genau. Ich spüre, wie ich innerlich ungehalten werde. Wer vermag es schon, Normen festzulegen, wie jemand etwas erleben oder was ein Mensch annehmen muss und was nicht?

Jeder macht es wie er kann.

Ich hatte Achtung vor ihm und seinem Kampf und es freute mich, dass er es schaffte, wieder ohne Hilfe zu atmen.

Wird dadurch Behinderung auf ein Moment des Subjektes reduziert?

Was ist denn Behinderung?

 

Eine junge Frau kommt zu mir in die Sprechstunde am Institut, sie fragt sich, ob sie Sonderpädagogik studieren soll. Sie hat eine Berufslehre und die Matur abgeschlossen und hat inzwischen ein anderes Studium aufgegeben, wegen ihrer Hörbehinderung.

Wenn die Vorlesungen in Hörsäälen mit einer Ringleitung stattfanden, dann konnte sie gut folgen, aber nicht alle Fächer fanden in solchen Vorlesungen statt.

Bald wird es ein Hörgerät geben, das gleichsam eine Ringleitung simuliert.

Was soll ich sagen?

Ich werde wütend.

Zwei Punkte hätten ihr gefehlt bei einer wichtigen Prüfung. Später hat sie dann in die Beratrungsstelle für Studierende mit einer Behinderung aufgesucht.

Dort hat sie erfahren, dass sie ein Anrecht auf einen privilegierten Platz im Hörsaal hätte, das hatte sie vorher nicht gewusst. Sie hat offenbar auch nicht gewusst, dass sie die Verlegung der Vorlesung in einen für sie kompatiblen Hörsaal hätte verlangen können.

Ob das ihr geholfen hätte?

Sie erzählt, dass die Hörenden mit denen sie zusammenarbeitet, vergessen, dass sie nichts hört, wenn man sie von hinten anspricht.

Es geschieht ihr immer wieder.

Immer muss sie sich outen, als jemand mit einer Hörbehinderung.

Meine Wut und meine Hilflosigkeit steigt, angesichts der Hilflosigkeit eines opaken Alltags, der Behinderten kaum Platz lässt und zwei Punkte sind eben zwei Punkte. In diesem Fall sind es zwei wichtige Punkte, die ein Berufsleben grundlegend verändert haben.

Was soll man sagen, wenn der Penalty nicht an den Pfosten geflogen wäre, hätte es ein Tor gegeben?

 

In 20Minuten findet sich auf Seite 31 der Comic-Strip von Calvin, der gerade herausgefunden hat, dass die Bedeutung von Wörtern überhaupt nicht festgelegt ist, jedes Wort kann alles bedeuten. Er wird zu diesem Zweck neue Bedeutungen für alltägliche Wörter finden, damit er sich mit seinem Vater nicht mehr verständigen kann.

Peter Bichsels Kindergeschichten kommen mir in den Sinn, ein Tisch ist ein Tisch und dann Sack's Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.

Was ist Behinderung?

 

Auf Seite 5 des gleichen Blattes lautet der Hauptartikel

»Weniger Abfallsünder dank unterirdischen Containern«.

Dazu finden sich folgende wetere Meldungen:

Es gibt 4.2% Arbeitslose im Kanton Zürich; auf der Aldi–Baustelle in Embrach werden die Arbeiter in Zukunft nach dem GA entlöhnt; bei einem Verkehrsunfall wurde die Lenkerin verletzt; ein 24-jähriger Mann wird vermittst und dazwischen die Meldung:

»Disability Studies

Zürich - Ein Buch und eine Vortragsreihe an der Universität Zürich analysieren die Gesellschaft unter dem Blickwinkel von Behinderungen. Damit soll die Forschungsrichtung Disability Studies einer breiten Oeffentlichkeit bekannt gemacht werden«.

 

Gestern las ich in der BAZ einen Artikel über die Demonstration in Lörach gegen den Mörder von M.; die junge Frau ist vor kurzem ermordert worden, der mutmassliche Täter ist gefasst. Der Mann wird beschuldigt noch etwa 15 weitere Frauen vergewaltigt zu haben, offenbar hatte er auch nicht weitere Mittäter. Auf einem der Transparente stand »keine Menschenrechte für Monster«.

Welche Entgleisung! Wenn man Menschen den Status des Menschen aberkennt, dann ist es nicht mehr weit, sie auch gleich totzuschlagen. Erstaunlich wie schnell die Bereitschaft wächst, Menschen ihr Menschssein abzusprechen, und dies nicht einfach nur beim umbedachten Stammtischgebrabbel, sondern nun offenbar auch schon wieder in aller Öffentlichkeit.

Bei allen Differenzen, die es in den letzten 60 Jahren gegeben hat, reagiere ich besonders empfindlich, wenn ich eine solche Meldung aus Deutschland vernehme.

Ich schiebe diesen Gedanken sogleich wieder weg, er ist mir peinlich, dass auch ich so reagiere, so unreflektiert, so vorurteilshaft.

Gleichzeitig frage ich mich, wie es kommt, dass nicht nach den gesellschaftlichen Umständen gefragt wird, die es möglich machten, dass 15 Frauen zum Teil über Jahre über ihre Misshandlungen geschwiegen haben, aus Scham wohl, wie zu vermuten ist.  Hätten sie früher sprechen können, dann wären vielleicht einige der Verbrechen nicht geschehen.

Wir leben in einer Zeit, wo die Verantwortung sich verflüchtigt hat. Man neigt dazu, wegzuschauen; man gewöhnt sich daran, sich im Ressentiment zu ärgern; man mag zum hundertsten Mal feststellen, dass alles immer schlimmer wird; man erträgt es kaum, dass das Gefühl der ewigen Party gestört wird, und schon wieder steigt die Bereitschaft an, jene Gedanken zuzulassen, dass endlich wieder einmal jemand kommt, der klar durchgreift. Das scheint ein gutes Umfeld für das Anwachsen faschisierenden Denkens zu sein.

Ich soll nicht kulturpessimistisch sein, sagt mir D. zum Abschied.

Ich sage ihm, dass ich kein Kulturpessimist bin, er sagt, dass er mir das glaubt, aber dass unser Gespräch –  das in einer amerikanischen Kaffeehauskette stattgefunden hat – eine solche Wendung zu nehmen beginnt, weshalb er es jetzt beenden möchte.