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Ich gehe zu ihm und hole mir sein Flugblatt. Fragen kann ich ihn nichts, denn in fünf Minuten geht mein Zug.

Auf dem Bahnsteig sehe ich einen Mann im Rollstuhl mit einer Begleiterin.

Eine Zugsbegleiterin fragt ihn, ob er auf diesen Zug wolle, die Abfahrt sei in 2 Minuten, er sagt der Mann im Rollstuhl, nein, er wolle auf den nächsten Zug.

Die »Scheininvalidität«, was für ein grossortiger Erfolg der SVP-Ideologen.

Seit seiner Lancierung steht alles, was mit Behinderung assoziiert wird unter dem Generalverdacht des Betrugs. Wie schön der Sozialversicherungsspezialist Toni Bertoluzi, Schreiner und Nationalrat, mit sonorer Stimme an Tagungen vermitteln kann, dass die »echten« Bedürftigen von der Politik seiner Partei nichts zu befürchten hätten, ganz im Gegenteil.

Irgendwie erscheint es logisch, dass die Probleme immer die anderen machen, das ist seit anno Tobak so.

Aber heute ist keine Zeit für Betrachtungen oder gar Diskussionen.

Es schon 07.01. Ich eile weiter, mir einen Platz im Speisewagen zu ergattern.

Edith Hunkeler ist Zweite geworden im 5000 m Rollstuhlrennen der Frauen an den Paralympics in Athen. Die NZZ bringt die Meldung auf der Ergebnisseite (Seite 62) links oben mit dem Titel »Drei Schweizer Medaillen«.

Endlich, ist man versucht zu sagen.

Fast hatte man den Eindruck, die schweizerischen BehindertensportlerInnen seien inzwischen soweit normalisiert, dass sie wie die schweizerischen Nicht-Behinderten-SportlerInnen kaum mehr Medaillen von ihren Wettkämpfen nach Hause bringen.

Die Nicht-Behinderten-Sportler können inzwischen Dank des Einsatzes von guten Mentaltrainern, wunderbar ins Mikrophon reden, weshalb sie sich gut fühlten, dass sie heute versagt hatten.

Es erinnert dies an einen alten Sozialpädagogenwitz: jemand macht sich immer in die Hosen. Er geht in die Beratung. Nachher wird er gefragt ob er immer noch inkontinent sei, er sagt ja, aber er könne jetzt viel besser damit umgehen. – piss off!

 

Edith Hunkeler ist eine Art Glamourgirl des Behindertensprotes.

Sie ist jung, hübsch und sportlich sehr erfolgreich.

Auf ihrer Homepage hat sie eine ganze Serie von Bildern auf denen sie posiert wie ein Model.

Fast sieht man nicht, dass sie nicht gehen kann.

Sie beschreibt, wie sie nach ihrem Autonunfall, der zur Querschnittlähmung geführt hat, in den USA Englisch lernte, und dort dem Behindertensport begegnet ist, wo sie seither viele Erfolge feiert.

In den Interviews, die sie auf ihrer Homepage abgedruckt hat, zeigt sie, welchen mentalen Weg sie hat zurücklegen müssen, um sich vom Trauma ihres Unfalls zu erholen und die Frau zu werden, die sie heue ist.

Gestern stand in der NZZ ein Hintergrundartikel über das eingeschränkte Schwitzvermögen von Tetraplegikern, bei denen Teile des vegetativen Nevensystems ausser Funktion gesetzt sind. Sie müssen künstlich gekühlt werden. Alle sind froh, dass es nun in Athen nicht mehr ganz so heiss ist, wie während der olympischen Spiele. Auch ein Grund, die beiden Veranstaltungen nicht zeitgleich abzuhalten.

 

Heute steht ein längerer Artikkel über die positive Dopingprobe des Radrennfahrers Tyler Hamilton vom Team Phonak. Hamilton wird beschuldigt, sich mit Fremdblut gedoppt zu haben. Er soll dies beim Olympiazeitfahren, das er gewann, in Athen vor einem Monat gemacht haben und beim Vuelta Zeitfahren. Die Vuelta hat er wegen Magenbeschwerden aufgegeben. Phonak ist der Velorennstall einer führenden Firma für die Herstellung von Hörgeräten. Seitdem die Firma einen Radrennstall unterhält, ist der Bekanntheitsgrad der Marke sprunghaft angestiegen, dank der Gratiswerbung durch die Sportsendungen.

Das volle Leben irgendwie.

Was jetzt noch fehlt ist eine Art Dokusoap mit Behinderten, in der Art wie »Kämpfe um Deine Frau«, in der Art irgendwie: »Ich bin behindert und sack Euch alle ein«.

Normalität, normal zu sein, sich in dieser Hinsicht des Unterschiedenwerdens, nicht mehr zu unterscheiden, das scheint das Ziel der Ausgegrenzten zu sein. Es geht um Frage solcher Art, wie unterscheide ich mich ohne unterschiedlich zu sein? Nicht-Normalität, freiwillig gewählte, versteht sich, gilt als originell. Es gilt allerdings nicht als originelle Lebensführung, wenn jemand, der gehen könnte, freiwillig mit dem Rollstuhl herumfahren würde, das wäre in einer besonderen Art blasphemisch.

Vor dreissig Jahren haben wir in einer Behindertenwerkstatt, zusammen mit einem ihrer Angstellten für den Bazar eines Afrika-Komitees Holzofenbrote gebacken.

Der junge, geistig behinderte Mann der uns dabei half, wohl aus Bewunderung und Verehrung für seinen Betreuer, der im Komitee mitarbeitete, war der einzige, der den Brotteig richtig kneten konnte. Wir anderen zeigten uns dabei als schreckliche Schwächlinge. Wir haben dort an einem Freitagabend, während das Brot im Holzofen buk, auch noch etwas Kleines gegessen und anschliessend haben wir mit den im Flur herumstehenden Rollstühlen anderer Behinderter ein Rollstuhlrennen gemacht. Ich kann mich noch an das mulmige Gefühl erinnern, an das Gefühl, dass man so etwas nicht macht und was ich denn empfinden würde, wenn es mich nun wirklich träfe, ich gelähmt wäre und nicht mehr gehen könnte. Es war der Bruch eines Tabus, das Überschreiten einer heiligen Grenze. Narren platzen dort herein, wo Engel zögern. Ich war keine Engel.

Der junge Mann ist später immer wieder an unsere Informationsstände gekommen. Ich habe ihn immer davon abzuhalten versucht, Flugblätter für die FRELOMO, die Befreiungsbewegung von Moçambique, zu verteilen. Er hatte Freude, so was zu tun. Ich wollte nicht, dass uns, dass mir, der Vorwurf gemacht werden könnte, ich würde einen geistig behinderten Menschen für meine politischen Ziele instrumentalisieren. Der junge Mann hat sich aber engagieren wollen, und er hatte sehr wohl verstanden, dass in den portugiesischen Kolonien – und nicht nur dort – Menschen mit einer nicht weissen – was heisst das schon? – Hautfarbe diskrimiert werden. Die geistige Behinderung war hier wohl auf meiner Seite. Ich hatte Angst davor, mich schämen zu müssen. Er hatte diese Angst nicht und er wusste, dass es richtig war, sich mit unterdrückten Menschen zu solidarisieren, das wusste ich auch, aber halt nur im Rahmen meiner engsten Normalität.

Wer «normal» ist, der ist nicht behindert, gilt auch die Umkehrung?

Wer wäre Frau Hunkeler ohne ihren Unfall? Vielleicht wäre sie ein Medienstar, vielleicht wäre sie eine der vielen unauffälligen, schönen, jungen Karrierefrauen.

Eine gewiss müssige Frage, da ihr Unfall ihrem Leben eine Wendung gegeben hat. Und ihr ist es gelungen, mit dieser Wendung so umzugehen, dass sie in der Gesellschaft Anerkennung und Bewunderung gefunden hat.

Ist das alles also eine Frage der Selbstverantwortung?

Gilt für behinderte und für nichtbehinderte Menschen gleichermassen, dass halt jeder für sich selbst schauen muss, damit er oder sie Erfolg haben kann?

 

Neben dem Begriff der Behinderung gibt es das inzwischen zum Unwort gestempelte Wort der »Invalidität« und des »Invaliden«.

»Es spielt der Invalid, ein Lied für Sie!«, so stand jeweils auf dem Schild geschrieben, das der blinde Drehorgelmann an seine Drehorgel geheftet hatte, auf welcher er jene – in meinen Ohren –  schrecklichen Krach verursachte, die ihm zu einem gewissen Einkommen verhelfen sollten.

Invalidus, geschwächt, nicht valid, wenig Wert, value und valid hängen doch irgendwie zusammen.

Wie auch immer. Das Unwort drückt einen gesellschaftlichen Sachverhalt aus, der darauf hinweist, dass das soziale Verhältnis der Behinderung für das dadurch zum Menschen mit einer Behinderung werdenden Gesellschaftsmitglied in der Regel mit der Einnahme von tiefen Positionen auf verschiedenen Statuslinien verbunden ist.

Die Soziologie unterscheidet zwischen erwerbaren und zugeschriebenen Status – unter uns gesagt ist das auch nicht gerade eine unglaublich gescheite Unterscheidung, aber sie hat den Vorteil, dass sie wenigstens keinen dieser unsäglichen Naturalismus gebraucht.

Belässt man den Begriff der Behinderung als soziales Verhältnis, dann sind mit Behinderung verknüpfte Statuspositionen offenbar erwerbbar, bzw. erworben. Gleichzeitig wird aber auch sichtbar, dass Menschen mit einer Behinderung auf der zentralen Statuslinie des Reichtums, der wirtschaftlichen Macht also, eher tiefere Positionen einnehmen. Sie finden seltener als nichtbehinderte Menschen Stellen, die ihrem Bildungsstatus entsprechen. Ihr Bilderungskapital unterliegt einer Inflation, es wird abgewertet und gibt bei gleichem nominalem Wert weniger her, als das von nicht-behinderten Menschen.

Dieses Problem betrifft aber nicht nur Menschen mit einer Behinderung, es betrifft auch andere Menschen. Bildungskapital ist heute weniger gut dafür zu instrumentalisieren, am gesellschaftlichen Reichtum teilnehmen zu können.

Einde dumme Geschichte für alle jene, die einen Weiterbildungskurs besucht haben, um ihr Bildungskapital vor der Entwertung zu schützen, bzw. es durch eine ordentliche Investion aufzustocken. Dieses Moment der Entfaltung von Behinderung vergisst man zu leicht, es setzt die Rolltreppe nach unten in Gang.